Scheitern, annehmen, wachsen

Eine buddhistische Sicht auf die Herausforderungen unseres Lebenswegs


Ausgabe:

04 // Lebenswege

Kategorie:

Gesund & bewusst leben

Interview:

© Christoph Köck / Privat

Christoph Köck

verbrachte 17 Jahre seines Lebens als Mönch in Klöstern in Thailand und Europa. Langjährige Lehrtätigkeit für Buddhismus und Meditation. Personenzentrierter Psychotherapeut in freier Praxis in Wien.

christoph-koeck.at

Interview:
Michael Girkinger
Helende Zand


Gespräch mit Christoph Köck // Psychotherapeut

Interview mit dem buddhistischen Meditationslehrer und Psychotherapeuten Christoph Köck über persönliches Wachstum, den Umgang mit Scheitern und die richtige Selbstfürsorge.


Selbstverwirklichung ist nicht nur ein zentrales Motiv für den Schritt in die Selbstständigkeit, sondern auch ein kultureller Leitwert. Was verstehen Sie unter Selbstverwirklichung? 

Aus buddhistischer Perspektive ist man skeptisch, was Selbstverwirklichung anbelangt. Dieses Selbst, das wir verwirklichen wollen: Von was reden wir da eigentlich genau? Natürlich bin das »Ich« mit meiner Persönlichkeit, meinen Fähigkeiten, meinen Talenten, meinen Schwierigkeiten. Selbstverwirklichung hat demnach etwas damit zu tun, meine Talente und Fähigkeiten so gut wie möglich zu leben, im Rahmen der Möglichkeiten, die jede Einzelne von uns vorfindet mit ihren Lebensumständen und gesellschaftlichen Beschränkungen.

Die buddhistische Skepsis kommt daher, dass einem das Selbst entgleitet, sobald man versucht, es zu finden und festzumachen. Das Selbst ist viel dynamischer als man wahrnimmt. Ich glaube daher, dass die Suche nach »dem wahren Selbst« unweigerlich in Frustration endet. 

Selbstverwirklichung heißt für mich auch, Entscheidungen zu treffen.

Christoph Köck

Selbstverwirklichung heißt für mich auch, Entscheidungen zu treffen. Welche Ausbildung mache ich, mit welchen Menschen möchte ich zusammen sein, wo möchte ich wohnen? Daraus erwächst die Verantwortung, mein Leben im Einklang mit meinen Werten zu gestalten. Sie geben uns Orientierung für die Frage, was ein gutes, sinnvolles und gelungenes Leben ausmacht. Davon hat jeder bestimmte Vorstellungen. Selbstverwirklichung hat oft einen selbstsüchtigen, selbstabsorbierenden Geschmack. In meiner Vorstellung geht es eher darum, als Mensch in einem größeren Zusammenhang eingebunden zu sein. Wir sind immer mit anderen Menschen zusammen. Wir leben in einer Gesellschaft. Ich glaube, dass Menschen dann am glücklichsten sind, wenn sie das Gefühl haben, einen Beitrag zu leisten, und Resonanz erfahren.

Wir streben alle nach persönlichem Wachstum. Was bedeutet für Sie persönliches Wachstum?

Im Buddhismus spricht man von einem Wachstum von »heilsamen Qualitäten«, d. h. von Qualitäten, die uns in unserer Glücksfähigkeit unterstützen und auch in unserer Fähigkeit, mit den Schwierigkeiten des Lebens umzugehen. Modern ausgedrückt würde man von Resilienz, Kommunikationsfähigkeit oder Selbsterkenntnis sprechen. Ich weiß, was ich fühle, ich weiß, wie ich mit meinen Gefühlen gut umgehe. Ich bin empathiefähig. Ich gehe nicht jedem Impuls nach, nicht jedem Angebot einer Lustbefriedigung. Ich bin geduldig. Das bedeutet Wachstum für mich. Heilsam ist hier pragmatisch gemeint. Es ist das, was uns hilft, relativ gut durchs Leben zu kommen. Wachstum bedeutet, meinen Mangel an Geduld, Fokus oder Empathiefähigkeit zu sehen und daran zu arbeiten. Aber natürlich auch meine Fähigkeiten, die schon da sind, zu stärken und zu nutzen.

Unser Geist ist ständig in Bewegung – wir haben Ziele, Wünsche, Bedürfnisse – wie können wir gut damit umgehen, wenn wir an Umständen, Mustern und Gewohnheiten scheitern?

Wenn man das von der Meditation her sieht: Meditation ist auch ein Immer-Wieder-Scheitern. Man nimmt sich vor, ich bleibe bei meinem Atem und dann gelingt es wieder nicht. Es ist wichtig, dass man das ernst nimmt, weil es auch der Beginn von Einsicht ist. Das spielt sich nicht nur im Mikrokosmos der Meditation ab, sondern auch im Makrokosmos des Lebens. Wir wollen etwas, aber die Umstände sind dagegen oder es gelingt uns nicht. Es gibt im Kleinen – in unseren Gedanken und Gefühlen – wie auch im Großen Ursachen und Wirkungen, die über unseren Willen hinausgehen. Wir können immer nur unser Bestes geben, aber wir müssen auch bescheiden bleiben und loslassen können. Wir Menschen überschätzen uns immer wieder in unserer Wirkmächtigkeit. Wir sollten uns aber auch nicht unterschätzen. Wir können einen Unterschied machen. 

Wie grenzen Sie einen reflexiven Umgang mit sich selbst von einer selbstumkreisenden Nabelschau ab, wie sie heute oft zu finden ist?

Ich glaube, es braucht so etwas wie eine existenzielle Ernsthaftigkeit. Das bedeutet nicht, verbissen durchs Leben zu gehen. Es bedeutet zu sehen, dass vieles in unserem Leben nicht in unserer Kontrolle ist. Unser Leben geht nur in eine Richtung: Wir werden alle sterben. Das ist ein wichtiger Kontext für das, was wir tun, und für die Frage: Was ist wirklich wichtig? Diese Frage kann natürlich zu einer Nabelschau führen. Aus meiner Erfahrung erkennen Menschen, die sich diese Frage stellen, dass es nicht nur um mich selbst geht, sondern um Beziehungen oder darum, etwas Gutes in die Welt zu bringen. Die Idee, mich zu optimieren, bis ich perfekt bin, ist eine illusionäre Aufgabe. Eigentlich geht es immer nur darum, hier zu sein, im Jetzt zu sein. Dazu braucht es die Fähigkeit, präsent zu sein, sich bewusst zu sein, dass jetzt dieser Moment zählt. Ob ich alleine bin oder mit anderen, jetzt ist immer der Moment, dem ich meine volle Aufmerksamkeit gebe mit der Frage: Wie möchte ich jetzt leben? Das ist ein guter Schutz vor der Illusion, dass ich immer etwas machen muss, damit es in der Zukunft besser wird. Natürlich gibt es immer Dinge, die ich lernen kann, aber mein Leben ist jetzt. Es ist wichtig, das immer mehr zu verinnerlichen. Dazu braucht es keine Seminare, man muss sich nur immer wieder daran erinnern. 

Wir sollten uns bewusst sein, dass wir in jedem Augenblick unser Tun, Sprechen und Denken mitgestalten können.

Christoph Köck

Ist das der Kerngedanke von Achtsamkeit?

Ja, Achtsamkeit bedeutet, im Hier und Jetzt zu leben, rücksichtsvoll und sorgfältig. Es hat etwas mit Selbstregulation zu tun. Mit der Fähigkeit, für sich Werte zu erkennen und das umzusetzen und nicht dauernd abgelenkt zu werden. Es hat etwas mit der Fähigkeit zu tun, seine Aufmerksamkeit zu halten und zu vertiefen. Aber auch damit, was ich konsumiere, wie ich mit Beziehungen oder mit mir selbst umgehe.

Unsere Lebenswege bringen immer auch verpasste Chancen und Verluste mit sich. Wie integrieren wir das alles in unser Leben, damit es gut weitergehen kann?

Wichtig ist, dass wir eine gute Beziehung zu uns selbst haben, d. h. Selbstmitgefühl und Selbstanteilnahme. Verluste und verpasste Chancen führen oft dazu, dass man sich selbst oder anderen die Schuld gibt und in Zorn, Frustration, Enttäuschung und Depression verfällt. Hier ist es wichtig, anzuerkennen, was gerade da ist, und sich zu sagen: »Ja, es tut weh, jetzt für diesen Schmerz da zu sein.« Das schafft nach einer Zeit wieder die Fähigkeit, neu zu beginnen. 

Wenn man einen Verlust erleidet, ist es außerdem hilfreich, sich nicht zurückzuziehen, sondern das mit anderen zu teilen. Mit guten Freunden oder auf professioneller Ebene mit jemandem, der dir andere Perspektiven aufzeigen kann. Und was auch wichtig ist: eine gewisse Bescheidenheit. Wir haben nicht alles in der Hand. Verlust oder Misserfolg sind Teil des Lebens. Manchmal sind sie auch eine Chance.

Was bedeutet für Sie zusammenfassend Selbstfürsorge? 

Die Basis einer guten Selbstfürsorge ist, dass man die eigene Selbstwirksamkeit anerkennt und diese Fähigkeit kultiviert. Wir sollten uns bewusst sein, dass wir in jedem Augenblick unser Tun, Sprechen und Denken mitgestalten können. Ich kann die Welt nicht nach meinen Wünschen verändern, aber ich kann einen Unterschied machen, wie ich auf das, was mir Augenblick für Augenblick begegnet, antworte oder im besten Sinne des Wortes re-agiere. Manchmal bedeutet das Nichtstun, einfach sein mit dem, was gerade ist. Fürsorglich mit sich zu sein, heißt Verantwortung dafür zu übernehmen, dass wir unser Erleben immer mitgestalten.

Selbstfürsorge bedeutet auch darauf zu schauen: Wo gibt es in meinem Leben Schwierigkeiten? Wo gibt es Leiden oder Frustration? Diesen Aspekten des Lebens sollte ich Aufmerksamkeit geben. Ich habe auch Verantwortung dafür, mein Leiden zu lindern. Und es geht immer auch darum, zu wissen und zu spüren, was mir guttut und das auch wirklich zu tun.


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Hintergrund: © gettyimages / Tendo23 · Buch: dtv-Verlag

Titelbild: © gettyimages / MaryLong

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