10 Thesen zur Zukunft der Arbeit

Johannes Narbeshuber


Ausgabe:

03 // New Work

Kategorie:

Neue Wege gehen

Autor:

© Johanna Schwaiger

Barbara Preinsack

 ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien, und Vorsitzende des Europäischen Ethikrates 

Hendrik Wagenaar

ist Fellow am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien und Adjunct Professor am Centre for Deliberative Democracy and Global Governance an der Universität Canberra.

brudermann.com


Unsere zehn Thesen richten sich gegen einige tief verwurzelte ideologische Glaubenssätze über das Wesen der Arbeit, deren Wurzeln bis zu den Anfängen des industriellen Kapitalismus zurückreichen. Diese Dogmen haben dazu beigetragen, die Probleme zu schaffen, unter denen sowohl Arbeitnehmer:innen als auch die meisten Arbeitgeber:innen heute leiden. Die Lösung dieser Probleme kann nicht aus derselben ideologischen Werkzeugkiste kommen, die für ihre Entstehung mitverantwortlich ist. 

1. Arbeit ist mehr als Erwerbsarbeit

Arbeit umfasst alle jene Tätigkeiten, mit denen Menschen einen Beitrag für andere bzw. zur Gesellschaft leisten. Sie schließt verschiedene Formen der bezahlten und unbezahlten Arbeit, der selbstständigen und unselbstständigen Arbeit sowie Kultur- und Care-Arbeit oder Teilzeit- und Vollzeitarbeit mit ein. Auch wenn es gute Gründe gibt, diese Formen der Arbeit jeweils unterschiedlich zu behandeln, so ist es doch wichtig, sie alle als Arbeit anzuerkennen. Nur auf diese Weise können wir die immense Wertschöpfung der unbezahlten Arbeit sichtbar machen.1 Ohne sie würde unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nicht funktionieren. 

2. Die Verbindung von Einkommen von Erwerbsarbeit neu denken

Die enge Kopplung sozialer Sicherungssysteme an die Erwerbsarbeit ist nicht mehr zeitgemäß. Digitalisierung, Automatisierung und die Plattformökonomie haben dazu beigetragen, Beschäftigungsverhältnisse, Erwerbsbiografien und die Organisation von Arbeit zu verändern. Die sozialen Sicherungssysteme, die zur Zeit Bismarcks konzipiert wurden, können heute nicht effektiv vor Armut schützen.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre ein zeitgemäßes Fundament eines neuen, starken Sozialstaates.2 Und es würde keineswegs das Ende der Erwerbsarbeit bedeuten. Im Gegenteil: es würde mehr Menschen ermöglichen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, die sie gerne und gut tun – was letzten Endes sowohl Arbeitnehmer:innen als auch Arbeitgeber:innen nutzt. (Und vergessen wir nicht, dass jene, die über große Kapitalvermögen verfügen, bereits heute ein bedingungsloses Grundeinkommen haben.)

3. Mit- und Selbstbestimmung am Arbeitsplatz ist ein Teilbereich demokratischer Teilhabe 

Während Demokratie für die meisten Menschen sehr wichtig ist, sehen es viele als selbstverständlich an, am Arbeitsplatz kaum demokratische Mitbestimmungsrechte zu haben. So selbstverständlich ist dies jedoch nicht: In Kooperativen beispielsweise sind die arbeitenden Menschen zugleich auch Miteigentümer:innen, die kollektiv alle wichtigen Entscheidungen treffen. Mit- und Selbstbestimmung am Arbeitsplatz hilft dabei, dass Menschen besser und kreativer arbeiten können. Und sie verhindern absurd große Einkommensunterschiede im selben Betrieb.

4. Die höchsten Einkommen sollten nicht mehr als zehnmal so hoch sein wie die niedrigsten 

2020 verdienten die CEOs der größten Firmen in den Vereinigten Staaten durchschnittlich 351 Mal so viel wie »normale« Arbeitnehmer:innen. Im Jahr 1965 war dieses Verhältnis noch bei 1:21 gelegen. Solche Unterschiede sind nicht nur extrem ungerecht – sie führen dazu, dass das Management den Kontakt zu den Bedürfnissen der Mitarbeiter:innen und zur sozialen Verantwortung des Unternehmens verliert. Zudem tragen solche exzessiven Einkommensunterschiede zu größerer ökonomischer, politischer und sozialer Polarisierung bei. Es braucht gesetzliche Rahmenbedingungen für eine gerechtere Verteilung der Produktivitätsgewinne der Arbeit und eine Beschränkung der Einkommensschere. Selbst wenn wir diese auf 1:10 beschränkten wäre dies weit weg von Gleichmacherei und »Leistungsfeindlichkeit«: Es würde bedeuten, dass die bestverdienenden CEOs nicht wie heute in nur wenigen Tagen das Einkommen verdienen, für das andere ein ganzes Jahr arbeiten – sondern dass sie dafür einen Monat benötigen würden. 

5. Arbeitnehmer:innen werden älter – und die Arbeitswelt muss sich anpassen, nicht umgekehrt

Immer wieder hört man, dass ältere Arbeitnehmer:innen weniger leistungsfähig oder flexibel seien. Viele sind tatsächlich physisch weniger leistungsfähig – wenn man sie mit 25-Jährigen vergleicht. In anderer Hinsicht leisten sie jedoch mehr: Sie haben Erfahrung und Know-how, jenes Wissen, das man aus Büchern nicht lernen kann. Wir müssen damit aufhören, »normale« Leistungsfähigkeit an den Standards von 25-Jährigen zu messen. Aufgrund des demografischen Wandels gibt es heute viel mehr ältere Arbeitskräfte als junge. Es ist höchste Zeit, auch unser Verständnis einer »normalen« Arbeitskraft an die Realität anzupassen und den wahren Grund dafür zu benennen, warum ältere Arbeitnehmer:innen so oft abgewertet werden: Damit man ihnen nicht das zahlen muss, was ihnen aufgrund ihrer Erfahrung und Expertise zusteht. 

7. Arbeit muss sich für alle lohnen

Leistung lohnt sich für viele gar nicht: Immer mehr Menschen können von ihrem Einkommen nicht leben. Wir brauchen eine Neubewertung der Arbeit, die darauf abstellt, welchen gesellschaftlichen Wert sie schafft. Nicht nur soziale Anerkennung, sondern auch Entlohnung muss sich daran orientieren.3 Pädagog:innen oder Pfleger:innen würden dann wesentlich mehr verdienen als heute, während etwa der gesellschaftliche Wert bestimmter Spekulationen mit Finanzprodukten negativ bemessen werden müsste.

8. Migrant:innen sollten arbeiten dürfen – wie alle anderen auch 

Migrant:innen, unabhängig von ihrem Status und ihrer Herkunft, müssen die Möglichkeit erhalten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen – zu denselben Bedingungen wie andere Menschen im Land. Viele Migrant:innen bringen wertvolle Fähigkeiten und ein großes Maß an Tatkraft und Initiative mit. Arbeit ist das beste Integrationsinstrument.

9. Arbeit hat moralischen Wert – aber nicht den, den gängige gesellschaftliche Bilder vermitteln

Weil Arbeit – als Beitrag zur Gesellschaft, aber auch als Arbeit an einem Selbst – ein menschliches Grundbedürfnis ist, hat sie moralischen Wert. Diesen moralischen Wert gilt es explizit zu machen, und damit auch dem »stillen Moralisieren« über Arbeit entgegenzuwirken, das sich etwa in der Stigmatisierung all jener niederschlägt, die nicht genauso arbeiten wie es den Privilegiertesten in unserer Gesellschaft nutzt. Arbeit ist nicht immer das, was »ökonomischen« Wert schafft. Bestimmte Tätigkeiten sind ökonomisch wertvoll, aber schädlich für die Gesellschaft oder Umwelt. Dafür wird der Wert der Sorge- und Kulturarbeit häufig übersehen. Erwerbsarbeit in diesen Bereichen muss fair bezahlt werden, und alle Menschen – unabhängig davon, ob und wie sie arbeiten – müssen genug für ein würdevolles Leben haben. 

10. Arbeitswelt statt Arbeitsmarkt

Die meisten Politiker:innen und Ökonom:innen sehen Arbeit als Markt. Viele von uns haben dieses Bild von der Arbeit als Markt übernommen – wir hinterfragen es gar nicht mehr. Wäre Arbeit jedoch ein Markt, dann gäbe es keine großen Informationsasymmetrien, und Menschen hätten die Möglichkeit, zu wählen, wann und was sie am Arbeitsmarkt anbieten. Zudem würden Pflegekräfte und all jene Berufe, an denen großer Mangel herrscht, ein Vielfaches dessen erhalten, was sie heute verdienen. Ebenso falsch ist, dass sich die Entlohnung nach der Produktivität der Arbeit richtet; täte sie dies, dann wären die Reallöhne in den letzten Jahrzehnten proportional zu den Produktivitätsgewinnen gestiegen. Arbeit ist kein Markt; Begriffe wie Arbeitswelt beschreiben die Realität treffender. Die Bezeichnungen und Worte, die wir verwenden, formen unser Denken und Handeln und wirken sich so auch auf bestehende Machtverhältnisse aus.

Die Autor:innen danken Elias Weiss für hilfreiche Kommentare zum Manuskript.

1 Z. B. https://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/bringing-household-services-out-of-the-shadows_fbea8f6e-en

2 Siehe Barbara Prainsack (2020). Vom Wert des Menschen: Warum wir ein bedingungsloses Grundeinkommen brauchen. Wien: Brandstätter.

3 Siehe etwa Prainsack, B. and Buyx, A., 2018. The value of work: Addressing the future of work through the lens of solidarity. Bioethics, 32(9), pp.585-592.


Titelbild: Brandstätter Verlag

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